In diesem Seminar soll der Themenkomplex Genre, Gattung, Stil, Stilistik etc. behandelt werden, d.h. Klassifikation von und in der Musik. Ausgangs- und Endpunkt ist dafür das "Genre" der automatischen Genreklassifikation, ein in den letzten Jahren viel beforschtes Gebiet im Music Information Retrieval. Die Motivation für Computerwissenschaftler und Ingenieure sich mit dieser Aufgabe zu beschäftigen liegt u.a. an hintergründigen kommerziellen Interessen, vor allem in Hinblick auf Findbarkeit und Auswahl von Musik im Zeitalter des Internets mit seine etwa 150 Millionen online verfügbaren Musikstücken. Dazu gehört auch die Idee Endanwender Musik automatisiert vorschlagen zu können, basierend auf der fundierten Prämisse, dass Musikpräferenzen oft an bestimmte Genre gekopppelt sind. Musikalische Genre fungieren in jeder Hinsicht als ein wichtiger erster Filter
Eine Form der Audio Genreklassifikation benutzt spektrale Informationen (sogenannte Audiofeature), die dann mit Hilfe avancierter statistischer Methoden des Maschinenlernens automatisch klassifiziert werden. Die symbolische Genreklassifikation operiert auch mit Merkmalen, die aber aus symbolischen Musikformaten generiert werden (z.B. MIDI). Dazu gesellt sich noch die text-basierte Genreklassifikaton, die im Wesentlichen darauf aufbaut, bereits vorhandene Genre- und andere relevanten Annotationen in Form von Text, der meist automatisiert aus Webressourcen gewonnen wird, für die statistische Klassifikationen zu benutzten. Schließlich gibt es noch Hybridsysteme, die aus der Kombination von einer oder mehrerer der genannten Methoden bestehen.
Jedoch ist in letzter Zeit vermehrt Kritik an den bisher verfolgten Ansätzen laut geworden, sowohl was die generelle Sinnhaftigkeit als auch die empirischen und theoretischen Grundlagen angeht. So auch die Brauchbarkeit des Konzept Genres an sich, denn Genre ist bei genauerer Analyse ein recht unscharfer Begriff, der nicht zuletzt mit anderen ähnlichen Begriffen, wie etwa Stil interferiert. Einzelne Genrezuordnungen und -benennungen sind zudem stark diskursiv gesprägt, wenn nicht sogar primär darüber bestimmt, d.h. sie sind nicht nur Sprach- und Sprecherabhängig, sondern auch noch zeitlich wandelbar. Das bedeutet zum einen, dass nicht nur die sogenannte "Ground Truth" zweifelhaft ist, d.h. die manuell durchgeführten Genrezuordnungen von Musikbeispielen, die als Basis für automatische Klassfikationen dienen, zum anderen auch, so dass eine vollständige automatische Klassifikation (und evtl. auch noch allein auf Objektbasis) für alle Zeiten und kulturellen Kontexte ein utopisches Unterfangen zu sein scheint. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass alleine schon bei All Music Guide 583 Genres und Subgenres beschrieben werden, die sich vor allem der amerikanischen Musik widmen, d.h. schon stark selektiv sind. Wenn man die Musik aller Zeiten und aller Orte in die Perspektive nimmt, scheint die Zahl der Genres und Stile schier uferlos zu werden. Dennoch sind Genre und Stil (der Unterschied soll in Rahmen dieses Seminares u.a. versucht geklärt zu werden) wichtige, wenn nicht unerlässliche kommunikative und konzeptionelle Mittel aller musikalischen Diskurse, wie Musikbusiness, Musikjournalismus und der Musikwissenschaft, so dass man sich zwangsläufig mit diesem Themenkomplex auseinandersetzen muss.
Die Idee dieses Seminars ist es, musikwissenschaftlichen Perspektiven und Möglichkeiten von Musikklassifikationen zu beleuchten, und neue oder verbessterte Ideen und Methoden dazu zu entwicklen. Diese Grundlagenarbeit könnte dann idealerweise als (nachgeholte) Voraussetzung für eine sich anschließende Automatisierung dienen.